Bundesteilhabegesetz: Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS) fordert die Rückkehr zur anstaltlichen Tradition
Zuletzt bearbeitet 13.3.2025
[Stellungnahme zu den Forderungen der BAGüS aus dem Februar 2025 zum BTHG]
Zum Beginn der Koalitionsverhandlungen für die 21. Legislaturperiode hat die BAGüS ein Papier mit Forderungen nach einer Reform des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) veröffentlicht. Die BAGüS gibt vor, ihre Vorschläge stimmten mit der UN-BRK überein. Doch faktisch bedeutet das Papier nichts anderes als eine Rolle rückwärts. Die BAGüS will die Leistungen der Eingliederungshilfe weitgehend auf stationäre Formen beschränken und diese ohne Rücksicht auf die individuellen Interessen der Betroffenen möglichst anstaltsförmig ausgestalten.
Die Errungenschaften für Menschen mit Behinderungen durch das BTHG sollen rückabgewickelt werden. Menschen mit Behinderung sollen nicht selbst bestimmen, wo und wie sie wohnen, sie sollen den Entscheidungen der Träger der Eingliederungshilfe und der Einrichtungsträger unterworfen werden. Die Forderungen sind so verklausuliert formuliert, dass es einer Übersetzung bedarf. Diese wird im Nachfolgenden gegeben.
1. „Bedarfsplanung“: Chiffre für die Reduktion der Leistungsangebote
Die BAGüS verlangt die Kompetenz zur sogenannten Bedarfsplanung. Das bedeutet, dass sie das Recht der Leistungserbringer, eine Leistung auf dem Markt anzubieten und eine entsprechende Leistungs- und Vergütungsvereinbarung abzuschließen, abschaffen will. Vor dem Hintergrund der bereits heute bestehenden Unterversorgung in der Eingliederungshilfe kann das nur heißen, dass die BAGüS die Versorgungssituation weiter verschlechtern will, um Kosten zu sparen. Das BVerwG hat schon 1993 entschieden, dass es ein solches Bedarfsplanungsrecht der Leistungsträger der Eingliederungshilfe nicht gibt (BVerwG, 30.9.1993, 5 C 41/91). Die Rechtsprechung ist dem seither durchgängig gefolgt.
2. „Belegungsrecht“: Chiffre für die Rückkehr zu Anstaltsstrukturen
Die BAGüS fordert ein Belegungsrecht der Träger der Eingliederungshilfe. Mit dem Begriff der „Belegung“ macht sie deutlich, dass sie eine Rückkehr zu stationären Versorgungsformen – zur klassischen Anstaltsstruktur – anstrebt. Der Begriff der Belegung ergibt nur in diesem Zusammenhang Sinn. „Belegt“ können nur Anstaltsplätze werden, nicht ambulante Dienstleister. Eine „Belegung“ durch eine Behörde impliziert, dass leistungsberechtigte Personen zum Objekt behördlichen Handelns gemacht werden. Ein behördliches Belegungsrecht konterkariert das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen, das fördern zu wollen die BAGüS in der Einleitung gleichwohl behauptet.
3. „Komplexitätsreduzierungen im Vertragsrecht“: Chiffre für die Rückkehr zur totalen Institution
Die BAGüS verlangt „Komplexitätsreduzierungen im Vertragsrecht“ und begründet dies mit dem modischen Schlagwort der „Entbürokratisierung“. Das Vertragsrecht hat die Rechtsbeziehungen zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer zum Gegenstand. Bis in die 1990er Jahre war es sehr einfach ausgestaltet. Es wurde lediglich eine Vergütung vereinbart. Was der Leistungserbringer dafür tatsächlich leistete, konnte er frei entscheiden. Diese Konstruktion war die rechtliche Grundlage für Einrichtungen der Eingliederungshilfe, die totale Institutionen waren: Institutionen, die das Leben ihrer „Insassen“ – wie Goffman, von dem der Begriff der totalen Institution stammt, sie nannte – vollständig bestimmten.
Erst die detaillierte Bestimmung der Leistungen im Rechtsverhältnis zwischen Träger der Eingliederungshilfe und Leistungserbringer räumt den leistungsberechtigten Personen einen hinreichend bestimmten Anspruch auf Leistungen gegen die Leistungserbringer ein. Wer diese Bestimmung als „bürokratisch“ oder unnötig „komplex“ kritisiert und sie wieder abschaffen möchte, will damit das Recht der Leistungsberechtigten auf Selbstbestimmung und personenzentrierte Leistungen abschaffen. Detaillierte Leistungsvereinbarungen sind die Grundlage personenzentrierter Leistungen.
4. „Überprüfung“ und „Anpassung“ der Regelungen zur Bedarfsermittlung: Chiffre für die Abschaffung des Prinzips der Personenzentrierung
Die Eingliederungshilfe unterliegt dem Bedarfsdeckungsprinzip. Die Feststellung des individuellen Bedarfs ist die Grundlage des Anspruchs jeder leistungsberechtigten Person auf individuelle, personenzentrierte Leistungen. Das BTHG stellt den Anspruch auf personenzentrierte Leistungen über das Interesse der Einrichtungen. Daher ist es nur folgerichtig, dass die BAGüS der Auffassung ist, die gesetzlichen Vorgaben zur Bedarfsermittlung seien „komplex und verwaltungsaufwändig“ und müssten „überprüft“ und „angepasst“ werden.
Die anstaltliche Tradition geht stillschweigend davon aus, dass der Bedarf eines Menschen mit Behinderungen genau dem entspricht, was die Einrichtung ihm bietet. Der Bedarf wird nicht von der Person her, sondern allein von der Einrichtung aus gedacht. Nach dieser Logik musste weder eine individuelle Bedarfsermittlung durchgeführt noch die Leistung der Einrichtung vertraglich bestimmt werden. Die Einrichtungen mussten nicht nachweisen, welche Leistungen sie erbringen.
Wer die gesetzlichen Vorgaben zur Bedarfsermittlung aushöhlen will, stellt sich damit gegen das Kernanliegen des BTHG, die institutionenzentrierte Ausgestaltung der Eingliederungshilfe zu überwinden und personenzentrierte Leistungen zu schaffen.
5. „Theoriereduzierte Ausbildungen“: Chiffre für Entqualifizierung der Teilhabeleistungen
Mit dem BTHG wurden erstmals fachliche Mindeststandards für das Personal der Leistungserbringer der Eingliederungshilfe im gesetzlich normiert (§ 78 Abs. 2SGB IX, § 124 Abs. 2 SGB IX). Die BAGüS nimmt den gegenwärtigen Personalmangel zum Anlass, eine Entqualifizierung zu fordern, die sie mit den Begriffen der „Beschleunigung“ der Berufsanerkennung und der „theoriereduzierten Ausbildung“ kaschiert. Sie stellt sich damit gegen den Anspruch der Leistungsberechtigten auf eine Leistung, die aktuellen fachlichen Standards (vgl. § 17 Abs. 1 S. 1 SGB I) entspricht, und auch gegen Art. 26 UN-BRK. Fachlichkeit der Assistenzkräfte ist oft Voraussetzung dafür, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können (z.B. wenn es um unterstützte Kommunikation geht).
6. „Vorrang der Pflege“: Chiffre für das Abschieben in Pflegeeinrichtungen
Die BAGüS fordert unumwunden einen Vorrang von Leistungen der Pflege vor Leistungen zur Teilhabe. Diese Forderung fügt sich nahtlos ein in das Anliegen, zur Versorgung in starren Institutionen zurückzukehren. Denn der Begriff der Pflege steht im Kontext des Sozialrechts für die Systeme der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe. Zwar fordert die BAGüS auch, die Leistungen der Pflegeversicherung auszubauen, doch jeder, der die aktuelle Debatte kennt, weiß, dass dies eine chancenlose Forderung ist. Ein Vorrang der Pflege vor der Eingliederungshilfe heißt daher nichts anderes als ein Vorrang der sozialhilferechtlichen Hilfe zur Pflege vor der Eingliederungshilfe. Ein Vorrang der Pflege bedeutet im Klartext
- Rückkehr zur stationären Einrichtung, die in der sozialhilferechtlichen Hilfe zur Pflege unverändert das vorherrschende Modell ist,
- Entzug von Leistungen zur Teilhabe,
- Reduktion der Ansprüche Betroffener auf eine pflegerische Versorgung ohne Berücksichtigung der Teilhabebedarfe,
- Rückführung der Ansprüche von Menschen mit starken Beeinträchtigungen aus dem System der Teilhabeleistungen in das System der Sozialhilfe (für das das SGB IX seit dem BTHG nicht mehr gilt),
- Heranziehung der Partner Betroffener für die Kosten bis zur Grenze der Armut und
- Wiedereinführung des Mehrkostenvorbehalts, der es Personen mit hohem Bedarf faktisch unmöglich macht, außerhalb einer Anstalt zu leben. Denn § 13 SGB XII träte dann an die Stelle von § 104 Abs. 3 S. 3. SGB IX.
7. „Förderung der Betreuungsqualität”: Chiffre für den Vorrang des Systems der rechtlichen Betreuung vor Leistungen zur Teilhabe
Mit der Reform des Recht der rechtlichen Betreuung, die zum 1.1.2023 in Kraft trat, hat der Gesetzgeber durch § 17 Abs. 4 SGB I und § 1814 Abs. 3 Nr. 2 Hs. 2 BGB klargestellt, dass sozialrechtlich finanzierte Leistungen zur Teilhabe im Verhältnis zur rechtlichen Betreuung vorrangig sind. Eine rechtliche Betreuung darf erst dann eingerichtet werden, wenn der die rechtliche Handlungsfähigkeit des Betroffenen nicht durch Unterstützung wie z.B. Leistungen zur Teilhabe hergestellt werden kann.