SG Lüneburg: Anspruch auf Assistenz an Nachmittagen, Wochenenden und des Nachts eines Kindes mit hohem Unterstützungsbedarf, das bei seinen Eltern lebt

Mit Urteil vom 12.2.2025 hat das SG Lüneburg entschieden, dass ein Kind mit einer schweren kognitiven Beeinträchtigung, das bei seinen Eltern lebt, auch außerhalb der Zeiten, in denen es zur Schule geht oder teilstationäre Leistungen in Anspruch nimmt, Anspruch auf umfangreiche Assistenzleistungen hat (SG Lüneburg, 12.2.2025, S 38 SO 9/22). Das Kind war zum Zeitpunkt der Antragstellung 8 Jahre und zum Zeitpunkt des Gerichtsurteils 11 Jahre alt.

Der Träger der Eingliederungshilfe erkannte zwar die extreme Belastung der Eltern, die aus dem Bedarf des Kindes resultieret, und war bereit, die Kosten für eine vollstationäre Versorgung außerhalb des Elternhauses zu übernehmen. Doch Assistenzleistungen für das Leben in der Familie lehnte er ab. Das Gericht verurteilte den Träger der Eingliederungshilfe nicht nur zur Übernahme der Kosten der Assistenz in der Zukunft, sondern auch zur Erstattung der Kosten, die für Assistenzleistungen nach Antragstellung entstanden waren.

Zu den Pflichten der Eltern stellte das Gericht klar:

Die sich aus § 1601 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ergebende Unterhaltspflicht der Eltern beinhaltet zwar auch eine grundlegende medizinische und pflegerische Unterstützung. Das Maß der hier für den Kläger erforderlichen Unterstützung und Begleitung geht jedoch weit über das hinaus, was die Eltern zu erbringen gesetzlich verpflichtet sind. Im Übrigen besteht eine Unterhaltspflicht im engeren Sinne immer nur insoweit, als die Eltern leistungsfähig sind (BeckOGK/Selg, 15.11.2024, BGB § 1601 Rn. 11-12). Diese Leistungsfähigkeit ist vorliegend angesichts der Berufstätigkeit der Eltern und der weiteren im Haushalt lebenden und der Unterstützung ebenfalls bedürfenden Geschwister eingeschränkt.“ (Rn 37)

Die Frage, ob die Eltern einen Aufwendungsbeitrag für die Assistenzleistungen aufbringen müssen, ist nicht Gegenstand der Entscheidung. Dazu siehe Fuchs / Ritz / Rosenow (Hg.): SGB IX - Kommentar zum Recht behinderter Menschen mit Erläuterungen zum AGG und BGG Kommentar, 7. Aufl. 2021 § 137 Rn 13 ff.

In meinen Augen ist das Urteil des SG Lüneburg eine sehr überzeugende Entscheidung – auch vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie aus Art. 6 Absätze 1 bis 3 GG, den das Gericht gar nicht erwähnt.

„Im Zentrum des Schutzbereichs [von Art. 6 GG] steht die Gemeinschaft von Eltern und minderjährigen Kindern.“ (Heiderhoff, in: Jörn / Kotzur, Markus (Hg.): Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn 76).

Das Recht, im Schoß seiner Familie aufzuwachsen, steht einem Kind mit einer Behinderung ebenso zu wie einem Kind ohne Behinderung. Das sollte sich von selbst verstehen, wird aber durch Art. 7 Abs. 1 und Abs. 2 UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) unterstrichen. Art. 7 UN-BRK ist für das GG auslegungsleitend heranzuziehen (BVerfG, 23.3.2011, 2 BvR 882/09; BVerfG, 26.07.2016, 1 BvL 8/15; LSG Baden-Württemberg, 26.9.2012, L 2 SO 1378/11), hier insbesondere für das Verbot, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG). Die Auffassung, ein Kind müsse in einem Heim leben, um die erforderliche Hilfe zu erhalten, wäre mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben sicher nicht zu vereinbaren.

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