Persönliches Budget: Hohe Hürden für die Kündigung der Zielvereinbarung

Das sächsische Landessozialgericht (LSG) hat in einem Eilverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen einen Bescheid, mit dem ein Bewilligungsbescheid für ein persönliches Budget aufgehoben worden war, bestätigt (Sächs. LSG, 22.3.2022, L 8 SO 2/22 B ER). Das persönliche Budget muss damit bis zum Abschluss des Widerspruchs- und ggf. Klageverfahrens weiterhin gezahlt werden.

In der Begründung entwickelt das LSG Maßstäbe für die Kündigung einer Zielvereinbarung. Außerdem weist es darauf hin, dass § 45 SGB X (Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes) und § 48 SGB X (Aufhebung eines Verwaltungsakt wegen veränderter Verhältnisse) hier durch § 29 Abs. 4 S.7 SGB IX verdrängt werden. § 29 Abs. 4 S. 7 SGB IX ist eine abweichende Vorschrift in einem der übrigen Bücher des SGB, die gemäß § 37 S. 1 SGB I vorrangig zu beachten ist.

Streitgegenständlich waren Leistungen der Eingliederungshilfe in Form eines persönlichen Budgets. Die leistungsberechtigte Person, die rund um die Uhr persönliche Assistenz benötigt, die sie mit einem persönlichen Budget finanziert, hielt sich mehrfach einem Krankenhaus auf. Der Träger der Eingliederungshilfe war der Auffassung, sie habe das unter Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten nicht rechtzeitig mitgeteilt. Daher kündigte er die Zielvereinbarung außerordentlich und nahm den Bewilligungsbescheid für das persönliches Budget mit Bezug auf § 45 SGB X zurück. Weiter teilte der Träger der Eingliederungshilfe der leistungsberechtigten Person mit, sie möge sich einen Anbieter der erforderlichen Assistenz suchen, der eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nach § 125 SGB IX abgeschlossen habe. Allerdings existiert eine solcher Leistungserbringer, der am Wohnort der leistungsberechtigten Person Leistungen anböte, nicht, was darauf hindeutet, dass der Träger der Eingliederungshilfe seinen Sicherstellungsauftrag (§ 17 SGB I, § 95 SGB IX) insoweit nicht erfüllt hat.

Die leistungsberechtigte Person legte Widerspruch gegen den Rücknahmebescheid ein und verlangte wegen der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs (§ 86a Abs. 1 S. 1 SGG) die Fortsetzung der monatlichen Zahlungen. Daraufhin ordnete der Träger der Eingliederungshilfe die sofortige Vollziehbarkeit des Rücknahmebescheides an (§ 86a Abs. 2 Nr. 2 SGG). Die leistungsberechtigte Person beantragte daher beim Sozialgericht Dresden (SG) die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG). Das SG Dresden gab diesem Antrag statt (SG Dresden, 6.12.2021, S 21 SO 248/21 ER - unveröffentlicht). Mit dem nun bekannt gewordenen Beschluss vom 22.3.2022 wies das sächsische LSG die Beschwerde des Trägers der Eingliederungshilfe zurück und nahm dies zum Anlass für grundsätzliche Ausführungen zur Kündigung der Zielvereinbarung und zur Rücknahme oder Aufhebung eines Bescheides über ein persönliches Budget.

Anforderungen an die Kündigung einer Zielvereinbarung

Eine Zielvereinbarung kann aus nur wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung gekündigt werden, § 29 Abs. 4 S. 4 SGB IX. Dazu führt das LSG aus:

„Nach § 29 Abs. 4 Satz 4 SGB IX können die Beteiligten, die die Zielvereinbarung abgeschlossen haben, diese aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung schriftlich kündigen, wenn ihnen die Fortsetzung der Vereinbarung nicht zumutbar ist. […] Für den Leistungsträger kann ein wichtiger Grund dann vorliegen, wenn die Leistungsberechtigten die Vereinbarung, insbesondere hinsichtlich des Nachweises zur Bedarfsdeckung und der Qualitätssicherung nicht einhalten (§ 29 Abs. 4 Satz 6 SGB IX). Im Fall der Kündigung der Zielvereinbarung wird der Verwaltungsakt aufgehoben (§ 29 Abs. 4 Satz 7 SGB IX). Mit dem Begriff des wichtigen Grundes knüpft die Norm an ganz allgemeine Rechtsgrundsätze (§ 626 […] BGB) an, die für öffentlich-rechtliche Verträge wie hier gesondert kodifiziert sind (§ 59 Abs. 1 Satz 2 Var. 2, Abs. 2 SGB X). Aus diesen allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergibt sich, dass ein Verstoß gegen die Zielvereinbarung nur dann ein Kündigungsgrund für den Träger sein kann, wenn der Verstoß erheblich oder der Berechtigte zuvor wegen eines anderen Verstoßes bereits einmal abgemahnt worden ist […]. Ein Verstoß ist dann erheblich, wenn ein schwerer Nachteil für das Gemeinwohl vorliegt, wenn also 'besondere, erhebliche, überragende Interessen der Allgemeinheit die Auflösung des Vertrags gebieten, durch die dem Staat auf seinen verschiedenen Ebenen unzumutbare Lasten auferlegt würden' […].

Zur Kündigung nach § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB X berechtigen daher weder die bloße Rechtswidrigkeit des Vertrags […], noch die Belastung der Gemeinschaft der Versicherten mit erhöhten Zahlungen […] oder rein fiskalische Gründe. Anders stellt sich die Situation nur dann dar, wenn dem Vertragsinhalt – gerade unter finanziellen Gesichtspunkten – erdrosselnde Wirkung zukommt […].

Ein schwerer Gemeinwohlverstoß im Sinne dieser Ausführungen ist nach Ansicht des Senats nicht gegeben. Zwar besteht ein erhebliches Interesse der Allgemeinheit an der zweckmäßigen Verwendung steuerfinanzierter Mittel. […] Ein einmaliges Versehen oder leichte Verstöße gegen die Zielvereinbarung im Laufe mehrerer Jahre berechtigen jedoch nicht sogleich zur Kündigung aus wichtigem Grund. Eine solche Kündigung kommt auch nicht etwa deshalb ohne Weiteres in Betracht, weil es sich – wie hier – um sehr hohe monatliche Zahlbeträge handelt.” (Randnummern 36 bis 39, Hervorhebung RR)

Hinweis BSG, 11.8.2022, B 8 SO 3/21 R

Die Entscheidung stärkt den Anspruch auf ein persönliches Budget und schlägt damit dieselbe Richtung ein, in die das Urteil des Bundessozialgerichts vom 11.8.2022 (B 8 SO 3/21 R - Terminsbericht) weist, das – soweit das dem Terminsbericht zu entnehmen ist – noch weiter geht [Meldung vom 11.8.2022]. Das BSG hat entschieden, dass auch § 47 SGB X (Widerruf eines rechtmäßig begünstigenden Verwaltungsaktes, z.B. bei zweckwidriger Verwendung einer zweckgebundenen Geldleistung) nicht für das persönliche Budget anwendbar ist.

Bereits mit dem grundlegenden Urteil des BSG zur Eingliederungshilfe nach dem SGB IX Teil 2 vom 28.1.2021, B 8 SO 9/19 R, zeichnete sich ab, dass ein Verwendungsnachweis für das persönliche Budget nicht verlangt werden darf. Das scheint sich nun zu bestätigten [Meldung vom 17.10.2021]. Die Forderung vieler Rehabilitationsträger, die Verwendung eines persönlichen Budgets kleinteilig nachzuweisen, ist bislang eine große Hürde, die die Nutzung persönlicher Budgets erschwert. Diese Hürde dürfte nun – mindestens für den Bereich der Eingliederungshilfe – entfallen.

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