Persönliches Budget für Sexualbegleitung

Das Sozialgericht Hannover (SG) hat einer durch einen Verkehrsunfall schwer behinderten Person einen Anspruch gegen die gesetzliche Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) auf ein persönliches Budget für eine Sexualassistenz zugesprochen [SG Hannover, 11.7.2022, S 58 U 134/18]. Der Kläger erlitt im Alter von 20 Jahren auf dem Weg zur Arbeit einen schweren Autounfall, den die Berufsgenossenschaft (BG) als Wegeunfall anerkannte und aus dem eine sehr schwere körperliche Beeinträchtigung resultierte. Seinem Antrag auf Leistungen für die Finanzierung einer Sexualbegleiterin zur Befriedigung seines Sexualtriebes gab die BG zunächst statt. Nach einiger Zeit wies sie einen Folgeantrag zurück. Sie begründete die Ablehnung mit dem Argument, die Befriedigung sexueller Bedürfnisse durch den Einsatz Prostituierter diene nicht der Erleichterung oder der Ermöglichung der Teilnahme am Leben der Gesellschaft. Denn sexuelle Kontakte fänden ausschließlich in einem von der Außenwelt abgesonderten, geschützten Intimbereich statt und erleichterten daher nicht die Aufnahme und Pflege gesellschaftlicher Kontakte.

Das SG folgte dieser Argumentation nicht und entschied, dass Sexualbegleitung eine Leistung zur sozialen Teilhabe im Sinne von § 76 SGB IX ist. Dem stehe nicht entgegen, dass Sexualbegleitung nicht in § 76 SGB IX aufgeführt ist, denn die Aufzählung in § 76 Abs. 2 SGB IX „ist nur beispielhaft und nicht abschließend” (Rn 21).

Zu den Leistungen zur sozialen Teilhabe führt das SG aus:

„Der Bereich der Sexualität ist ein relevanter Aspekt des sozialen Lebens. Sexuelle Bedürfnisse zählen zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen und können daher im Rahmen von Teilhabeprozessen auch indirekt eine große Rolle spielen […]. Die persönliche Entwicklung, das seelische Befinden und das Selbstbewusstsein eines Menschen wird erheblich beeinflusst durch die selbstbestimmte Sexualität, die damit Voraussetzung ist für eine wirksame und gleichberechtigte Teilhabe und soziale Eingliederung des Menschen mit Behinderung. Und weil der Normzweck der Leistungen zur Teilhabe gerade nicht beschränkt ist auf die Erleichterung gesellschaftlicher Kontakte, sondern auch die Förderung der ganzheitlichen persönlichen Entwicklung und der Erleichterung einer möglichst selbständigen und selbstbestimmten Lebensführung (§ 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX) erreicht und dadurch die Teilhabe am 'Leben in der Gemeinschaft' ermöglicht werden soll, stellt die Sexualbegleitung im Fall des Klägers eine geeignete Leistung zur Integration in die Gesellschaft dar. Denn von dem Begriff der persönlichen Lebensführung ist auch die Sexualität als elementares Grundbedürfnis erfasst. Die Leistungen zur sozialen Teilhabe reduzieren sich folglich nicht darauf, Kontakte zur Außenwelt zu knüpfen oder Hilfsmittel zur Bewältigung der Anforderungen des täglichen Lebens bereitzustellen, sondern sie sollen auch das gestörte seelische Befinden des behinderten Menschen verbessern und sein Selbstbewusstsein stärken […]. Nach Ansicht der Kammer ist es daher verfehlt, den Kontakt mit anderen Menschen in der Öffentlichkeit als Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration eines Menschen mit Behinderung zu fordern. Auch im privaten und vertrauten Bereich, wie hier im Rahmen der Sexualität, ist sicherzustellen, dass die soziale Teilhabe des behinderten Menschen nicht eingeschränkt wird.” (Rn 22)

Die Bedeutung dieses Urteil geht über den Bereich der Sexualbegleitung weit hinaus. Zurzeit ist zu beobachten, dass immer wieder versucht wird, den weiten Begriff der Leistungen zur sozialen Teilhabe verengt auszulegen. In eine solche Richtung gingen z.B. die Urteile der Instanzgerichte, die das Bundessozialgericht (BSG) mit seiner Entscheidung vom 19.5.2022 zum Anspruch auf Urlaubsassistenz korrigiert hat [s. Meldung vom 28.5.2022]. Daher sind die oben zitierten und überzeugenden Ausführungen des SG zur Reichweite des Begriffs der Leistungen zur sozialen Teilhabe besonders wichtig. Sie treffen z.B. auf Beratungsleistungen wie Autismusberatung ebenso zu [zu Autismusberatung s. LSG Celle, 28.11.2019, L 8 SO 240/18: Autismusberatung als Leistung der Eingliederungshilfe; Meldung vom 29.1.2020]. Auch Beratungs- und viele andere Unterstützungsleistungen finden zumeist nicht in der Öffentlichkeit statt.

Zu dem unfallversicherungsrechtlichen Problem, dass § 39 SGB VII nicht auf §§ 76 ff. SGB IX verweist, äußerst sich das SG unter Rn 18. Im Recht der Eingliederungshilfe, auf das die Entscheidung übertragbar ist, besteht dieses Problem nicht (§ 113 SGB IX).

Zum persönlichen Budget siehe auch die aktuellen Entscheidungen des BSG vom 11.8.2022 [Meldung vom 11.8.2022] und des sächsischen LSG vom 22.3.2022 [Meldung vom 29.8.2022].

Vor dem Hintergrund der Grundsatzentscheidung des BSG zum neuen Recht der Eingliederungshilfe und zum persönlichen Budget vom 28.1.2021 [BSG, 28.1.2021, B 8 SO 9/19 R, Meldung vom 17.10.2021] ist ein weiterer Aspekt interessant: Die BG wies den Folgeantrag auf ein persönliches Budget für Sexualbegleitung vom Bescheid vom 9.3.2018 zurück. Das Urteil des SG Hannover erging am 11.7.2022 und damit mehr als vier Jahre später. Während dieser vier Jahre erhielt der Kläger die begehrte Leistung nicht, soweit das dem Urteil des SG zu entnehmen ist.

Nachdem das BSG mit dem o.g. Urteil vom 28.1.2021 entschieden hat, dass ein Bescheid über Leistungen der Eingliederungshilfe in der Regel nicht rechtmäßig befristet werden kann, hätte der Kläger nun die Möglichkeit, nicht erst gegen die Zurückweisung des Folgeantrags Widerspruch einzulegen, sondern bereits gegen die Befristung der vorangegangenen Bewilligung. Nach Verstreichen dieser Widerspruchsfrist könnte er dasselbe mit dem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X erreichen. Das müsste zur Aufhebung der Befristung führen, die eine isolierte Nebenbestimmung (§ 32 SGB X) des Bescheides ist. Wurde rechtzeitig Widerspruch gegen die Befristung eingelegt, wäre die Befristung bis zum Abschluss des Verfahrens schwebend unwirksam, weil Widerspruch und ggf. KLage aufschiebende Wirkung entfalten (§ 86a Abs. 1 S. 1 SGG).

Der Rehabilitationsträger müsste dann, um sein Ziel zu erreichen, nicht einen Folgeantrag zurückweisen, sondern den unbefristeten Bewilligungsbescheid aufheben (§ 48 SGB X) oder zurücknehmen (§ 45 SGB X). Der Kläger könnte sich dann mit Widerspruch und Klage gegen die Aufhebung oder Rücknahme wehren. Da auch hier Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung haben, bestünde der Anspruch auf Leistungen vorläufig fort, bis das Verfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

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