Eingliederungshilfe: Leistungs- und Vergütungsvereinbarung ohne ausreichende Regelungen zum Leistungsumfang ist nichtig

Das Sozialgericht (SG) Freiburg hat in einem Eilverfahren nach § 86b SGG (Eilantrag) entschieden, dass eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung über ambulant betreutes Wohnen nichtig ist, wenn ihr nicht entnommen werden kann, in welchem Umfang der Leistungserbringer im Bewilligungsfall Leistungen der Eingliederungshilfe erbringen muss (SG Freiburg, 26.10.2022, S 9 SO 2169/22 ER). Dies dürfte die erste Gerichtsentscheidung sein, die bestätigt, dass eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung nichtig sein kann, wenn sie nicht alle Regelungen enthält, die § 125 Abs. 2 SGB IX verlangt.

Sachverhalt

Die Antragstellerin erhielt Leistungen der Eingliederungshilfe in Form ambulanter sozialpädagogischer Unterstützung (sog. Ambulant Betreutes Wohnen - ABW) im Umfang von durchschnittlich etwa 5 Stunden pro Woche. Der Leistungserbringer, der diese Leistung erbrachte, erhielt dafür vom Träger der Eingliederungshilfe eine Vergütung in Höhe von rund 1.500 € monatlich.

Im Jahr 2021 zog die Antragstellerin nach Südbaden um. Der Bedarf änderte sich dadurch nicht. Der hiesige Träger der Eingliederungshilfe, ein Landkreis im Regierungsbezirk Freiburg, hat nach eigener Auskunft mit etwa 30 Leistungserbringern gleichlautende Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen über ABW abgeschlossen, die eine Pauschalvergütung von rund 730 € im Monat vorsehen. Eine Differenzierung nach Leistungsumfang im Einzelfall ist nicht vorgesehen. Der Landkreis ist der Auffassung, die Leistungserbringer müssten für diese Pauschale die jeweils im Einzelfall erforderliche Leistung erbringen. Es sei aber Sache des Leistungserbringers – nicht des Trägers der Eingliederungshilfe! –, den erforderlichen Umfang zu bestimmen. Der Landkreis vertrat gegenüber der Antragstellerin die Auffassung, dass der Umfang der Leistung deshalb auch nicht im Gesamtplan festgelegt werden könne (vgl. aber § 121 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX).

Auf dieser Grundlage bewilligte der Träger der Eingliederungshilfe dann Leistungen der Eingliederungshilfe. Der Leistungserbringer, ein großer Ortverband eines christlichen Wohlfahrtsverbandes, erbrachte daraufhin Leistungen im Umfang von 1 bis 1,5 Stunden pro Woche. Er ließ die Antragstellerin wissen, dass er vom Träger der Eingliederungshilfe eine Vergütung erhalte, die nur in diesem Umfang Leistungen ermögliche.

Klassische Zwickmühle

Die Antragstellerin befand sich damit in der für die Eingliederungshilfe typischen Zwickmühle. Der Träger der Eingliederungshilfe sagt, er habe Leistungen in ausreichendem Umfang bewilligt. Der Leistungserbringer müsse bedarfsgerecht leisten. Der Leistungserbringer sagt, der Träger der Eingliederungshilfe zahle eine Vergütung, die für bedarfsdeckende Leistungen nicht ausreiche. Wendet die Antragstellerin sich an den Leistungserbringer, verweist dieser auf den Träger der Eingliederungshilfe. Wendet sie sich an diesen, verweist er auf den Leistungserbringer.

Interessen der Träger der Eingliederungshilfe und der Leistungserbringer

In diesem Fall sind die Zahlenverhältnisse sehr aufschlussreich. An ihrem vorherigen Wohnort erhielt die Antragstellerin sozialpädagogische Unterstützung im Umfang von fünf Stunden pro Woche. Der Träger der Eingliederungshilfe bezahlte dafür rund 1.500 € an der Leistungserbringer. Am neuen Wohnort erhielt sie Unterstützung im Umfang von etwa 1,25 Stunden pro Woche. Das ist Viertel der vorherigen Unterstützung. Die Vergütung, die der Träger der Eingliederungshilfe dafür an den Leistungserbringer zahlte, lag aber ungefähr bei der Hälfte der Vergütung, die zuvor gezahlt wurde. Das bedeutet einerseits, dass der Träger der Eingliederungshilfe Ausgaben einspart, die etwa die Hälfte der Kosten ausmachen, die er für eine bedarfsdeckende Leistung aufwenden müsste. Andererseits heißt das, dass der Leistungserbringer eine Vergütung erhält, die doppelt so hoch ist wie die, die der Leistungserbringer am vorherigen Wohnort erhielt. Es ist kaum vorstellbar, dass diese Vergütung den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit entspricht (s. § 123 Abs. 2 S. 2 SGB IX). Doch der Träger der Eingliederungshilfe duldet dies, solange er nur die von ihm für richtig gehaltene Pauschale in Höhe von rund 730 € monatlich bezahlen muss.

Das zeigt, dass der Abschluss von Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen, die eine Pauschalvergütung vorsehen, aber offenlassen, in welchem Umfang der Leistungserbringer dafür tatsächlich Leistungen erbringen muss, für beide Seiten – Träger der Eingliederungshilfe und Leistungserbringer – wirtschaftlich vorteilhaft ist. Der Träger der Eingliederungshilfe kann die Vergütung auf diese Weise erheblich reduzieren, sich den Leistungsberechtigten gegenüber aber darauf berufen, dass er bedarfsdeckende Leistungen bewilligt habe, weil der Umfang der Leistungen in der Leistungsvereinbarung nicht definiert ist. Der Leistungserbringer kann sich ebenfalls darauf berufen, dass der Umfang der Leistungen nicht definiert ist, und damit frei entscheiden, in welchem Umfang er Leistungen erbringen möchte. Aus unternehmerischer Sicht ist das äußerst attraktiv. Den Preis für diesen Deal zahlen die Leistungsberechtigten durch Bedarfsunterdeckung.

Vorgehensweise der Antragstellerin

Im Verfahren, das zum Beschluss des SG Freiburg vom 26.10.2022 führte, ging die Antragsteller zunächst gegen den Bewilligungsbescheid vor. Da sie die Widerspruchsfrist verpasst hatte, stellte sie einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X. Die Leistung war als Sachleistung bewilligt worden (ABW durch den im Bescheid bezeichneten Leistungserbringer). Sie verlangte, dass dieser Bescheid zurückgenommen und durch eine Bewilligung von Geldleistungen in ausreichender Höhe ersetzt werde. Da eine wirksame Leistungs- und Vergütungsvereinbarung zwischen dem Träger der Eingliederungshilfe und dem Leistungserbringer nicht existiere, verstoße die Bewilligung einer Sachleistung gegen § 123 Abs. 1 S. 1 SGB IX. Der Bescheid sei daher rechtswidrig und durch die Bewilligung einer Geldleistung zu ersetzen (§ 105 SGB IX).

Zugleich legte sie Widerspruch gegen den Gesamtplan ein. Der Gesamtplan wird überwiegend nicht als Verwaltungsakt verstanden, aber vieles spricht dafür, dass er ein Verwaltungsakt ist (s. § 31 SGB X; zur Frage, oder Gesamtplan Verwaltungsakt ist, s. Rosenow, RP Reha 2/2018). Der Gesamtplan verpflichtet den Leistungserbringer unmittelbar, § 123 Abs. 4 S. 1 SGB IX. Doch der Gesamtplan enthielt (entgegen § 121 Abs. 4 Nr. 3 SGB IX) keine Bestimmung des Leistungsumfangs. Sie verlangte daher, dass der Leistungsumfang festgelegt werde. Über Widerspruch und Überprüfungsantrag hat der Träger der Eingliederungshilfe bis heute nicht entschieden.

Sodann beantragte sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Der Antrag richtete sich gegen den Träger der Eingliederungshilfe. Das Sozialgericht lud den Leistungserbringer zum Verfahren bei (§ 75 SGG). In erster Linie beantragte sie, die unzureichende Sachleistung durch eine ausreichende Geldleistung zu ersetzen. Die Anträge und Hilfsanträge der Antragsteller sind im Beschluss des SG wiedergegeben.

Entscheidung des Sozialgerichts

Das Sozialgericht entsprach diesem Antrag und verpflichtete den Träger der Eingliederungshilfe, zunächst für drei Monate, Eingliederungshilfe als Geldleistung in Höhe von 1.500 € monatlich zu erbringen.

Entscheidend für dieses Ergebnis ist, dass das SG die Leistungs- und Vergütungsvereinbarung für nichtig hält, weil sie nicht alle Mindestbestandteile enthält, die das Gesetz vorsieht (§ 38 SGB IX, § 125 SGB IX). Insbesondere lasse sich der Leistungsvereinbarung nicht entnehmen, in welchem Umfang der Leistungserbringer Unterstützung leisten muss. Die Antragstellerin habe daher keine Möglichkeit, ihren Anspruch auf bedarfsdeckende Leistungen im Erfüllungsverhältnis (= das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Antragstellerin und Leistungserbringer) gegen den Leistungserbringer durchzusetzen.

Das SG stützt den Anspruch auf eine Geldleistung dann aber auf § 123 Abs. 5 SGB IX. Nach dieser Vorschrift können nicht Geldleistungen, sondern Sachleistungen im Einzelfall bewilligt werden. Rechtsgrundlage für eine Geldleistung ist § 105 SGB IX. Die Entscheidung ist zwar im Ergebnis überzeugend, aber § 123 Abs. 5 SGB IX kann sie nicht tragen. Das ist – wenn man diese Auffassung teilt – allerdings lediglich ein Mangel der Begründung und stellt die Entscheidung nicht in Frage, da das Recht der Eingliederungshilfe mit § 105 SGB IX eine Rechtsgrundlage für einen Anspruch auf Geldleistungen (außerhalb des persönlichen Budgets) enthält.

Was aus der Entscheidung folgt

Wenn man die Mitteilung des Trägers der Eingliederungshilfe, dass er mit allen Leistungserbringern vergleichbarer Leistungen identische Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen geschlossen habe, zutrifft, dann folgt aus der Entscheidung, dass diese Vereinbarungen sämtlich nichtig sind. Wahrscheinlich gilt das für sehr viele Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen in ganz Deutschland, weil sehr viele Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen nicht alle gesetzlichen Mindestbestandteile enthalten. Wenn die Vereinbarungen nichtig sind, können Bescheide, die Sachleistungen auf der Grundlage solcher Vereinbarungen bewilligen, rechtswidrig sein (wie im Fall oben).

Leistungsberechtigte haben die Möglichkeit, gegen solche Bescheide mit Widerspruch und Überprüfungsantrag vorzugehen und statt der Sachleistung eine Geldleistung zu verlangen. Mit dieser können und müssen sie dann die Leistung, die sie wegen ihrer Behinderung brauchen, bezahlen. Damit können sie sich gegen mangelhafte und nicht ausreichende Leistungen wehren, indem sie die Vergütung kürzen und sich ggf. einen Teil der Leistungen bei anderen Anbietern beschaffen.

Ein Beispiel:

Wenn eine leistungsberechtigte Person in einer besonderen Wohnform wohnt, kann im Streit stehen, in welchem Umfang Unterstützung bei Freizeitaktivitäten geleistet werden muss. Möglicherweise lehnt der Träger der Eingliederungshilfe es ab, weitere Leistungen für – zum Beispiel – eine Freizeitassistenz nach Feierabend in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung zu bewilligen, und verweist darauf, dass der Leistungserbringer auch das leisten müsse. Der Leistungserbringer wird dann vermutlich einwenden, dass diese Leistung nicht bezahlt werde, er sie also nicht erbringen könne. Die leistungsberechtigte Person befindet sich in der oben beschriebenen Zwickmühle.

Ausgehend von dem Beschluss des SG Freiburg sollte sie zunächst prüfen, ob der Leistungs- und Vergütungsvereinbarung zu entnehmen ist, ob der Leistungserbringer die Freizeitassistenz erbringen muss. Das ist wahrscheinlich nicht der Fall. Dann kann sie wie die Antragstellerin in dem oben beschriebenen Fall vorgehen und Geldleistungen verlangen. Eine Alternative liegt darin, dass sie auf ein persönliches Budget (§ 29 SGB IX) umstellt. Sobald sie Geldleistungen statt der bisherigen Sachleistung erhält, kann sie einen Teil der vom Leistungserbringer verlangten Vergütung einbehalten und damit die Freizeitassistenz finanzieren.

Wenn der Leistungserbringer sich wehrt und von ihr verlangt, eine höhere Vergütung zu zahlen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Leistungserbringer hat Recht. Dann hat sie auch einen Anspruch auf eine höhere Geldleistung gegen den Träger der Eingliederungshilfe, der ja bedarfsdeckend leisten muss. Oder der Leistungserbringer hat nicht Recht. Dann hat sie ohnehin kein Problem.

Fachpolitische Bedeutung

Die Frage, ob der Leistungsumfang so klar bestimmt wird, dass Leistungsberechtigte einen klar definierten Anspruch auf Unterstützung haben, ist eine der Schlüsselfragen, um die im Zuge des Streits um die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes gerungen wird. Die Seite der Träger der Eingliederungshilfe kämpft zurzeit verzweifelt darum, die Umsetzung kostenneutral zu gestalten. Das ist nur möglich, wenn Menschen mit Behinderungen ein Teil der Leistungen, die sie brauchen, vorenthalten wird. Ein offenes Bekenntnis zu einem rechtswidrigen Vorhaben ist natürlich nicht zu erwarten. Die „Lösung” liegt, etwas vereinfacht gesagt, darin, dass die Träger der Eingliederungshilfe den Leistungserbringern vorwerfen, dass sie die Vergütung nicht effizient einsetzten. Zugleich verhindern die Träger der Eingliederungshilfe, dass die Leistungen nach Art, Qualität und Umfang genau festgelegt werden. So können sie nach dem oben dargestellten Strickmuster die Vergütung deutlich absenken und dabei den Anschein wahren, bedarfsdeckende Leistungen zu erbringen. Die Schuld für unzureichende Leistungen können sie so den Leistungserbringern zuschieben.

Die Leistungserbringerseite reagiert auf diese Strategie zwar mit einer gewissen Empörung. Zwar könnten auch sie durchsetzen, dass der Umfang der Leistung verbindlich bestimmt wird. Aber das wollen die Leistungserbringer ebenso wenig wie die Träger der Eingliederungshilfe. Es ist für sie, jedenfalls für viele von ihnen, weitaus attraktiver, bei der Praxis der pauschalen Vergütung ohne genau bestimmte Leistungspflichten zu bleiben. So können sie ihre unternehmerischen Risiken dadurch kompensieren, dass sie Leistungen kürzen, wenn sie schlecht gewirtschaftet haben. Mehr noch: Sie können Personal einsparen oder in gewissem Umfang durch Freiwillige und Ehrenamtliche ersetzen und auf diese Weise mit den Leistungen der Eingliederungshilfe erhebliche Überschüsse erwirtschaften.

Fast drei Jahre nach Inkrafttreten des neuen Rechts der Eingliederungshilfe ist nicht mehr zu übersehen, dass es Trägern der Eingliederungshilfe und Leistungserbringern gemeinsam gelingen könnte, den Paradigmenwechsel weg von institutionenzentrierten hin zu personenzentrierten Leistungen, den das Bundesteilhabegesetz verlangt, dauerhaft zu verhindern. Der Beschluss des SG Freiburg könnte ein Anfang sein, um dieser Gefahr zu begegnen.

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