Bundessozialgericht: „Der behinderte Mensch bestimmt selbst, wie er seine Freizeit gestaltet.”

Das Bundessozialgericht (BSG) hat das Urteil im Kreuzfahrt-Fall veröffentlicht (BSG, 19.5.2022, B 8 SO 22/18 R). Das BSG hatte hier entschieden, dass die Übernahme der Kosten für die Unterbringung eines Assistenten, der es der leistungsberechtigten Person ermöglicht, an der Kreuzfahrt teilzunehmen, auf dem Kreuzfahrtschiff eine Leistung der Eingliederungshilfe sein kann [Meldung vom 28.5.2022]. Die Begründung enthält wichtige Ausführungen, die das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderungen, die Reichweite des grundgesetzlichen Verbotes, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen, und die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) für die Auslegung des Rechts der Eingliederungshilfe betreffen.

Der 8. Senat nahm den Fall zum Anlass, um unmissverständlich klarzustellen, wer bestimmt, wie Menschen mit Behinderungen ihre Freizeit gestalten und wie sie am sozialen Leben teilhaben. Er formuliert den schönen Satz: „Der behinderte Mensch bestimmt selbst, wie er seine Freizeit gestaltet und welche Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft er ergreift.” (Rn 15)

Und etwas weiter unten:

„Maßstab für berechtigte, d[as] h[eißt] angemessene und den Gesetzeszwecken und -zielen entsprechende Wünsche […] sind die Bedürfnisse eines nicht behinderten, nicht sozialhilfebedürftigen Erwachsenen […]. Dies beurteilt sich in erster Linie nach dem Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe, eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierbei gilt ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der einer pauschalierenden Betrachtung regelmäßig entgegensteht […]; die Vorstellungen des Trägers der Eingliederungshilfe sind insoweit unerheblich. Begrenzt wird das Wunschrecht des Betroffenen durch § 9 Abs 2 Satz 3 SGB XII, wonach der Träger der Sozialhilfe in der Regel Wünschen nicht entsprechen soll, deren Erfüllung mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden wäre. In dieser Regelung findet auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit seinen Ausdruck […].” (Rn 18, Hervorhebung d. d. Verf.)

Sicher, so steht das alles im Gesetz. Aber wie schön, dass ein Bundesgericht das derart klar ausspricht!

Der Fall spielte vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts der Eingliederungshilfe in §§ 90 bis 150 SGB IX. Daher nimmt das BSG hier Bezug auf das sozialhilferechtliche Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 SGB XII). Das Wunsch- und Wahlrecht im aktuellen Recht der Eingliederungshilfe (§ 104 Abs. 2 und Abs. 3 SGB IX) geht deutlich weiter als dasjenige der Sozialhilfe. Das bedeutet, dass diese Ausführungen für das aktuelle Recht umso mehr gelten.

Aus rechtsdogmatischer Perspektive ist besonders auf zwei Argumente hinzuweisen, die das BSG hier stark macht. Der Senat bekräftigt, dass in dem verfassungsrechtlichen Verbot, Menschen mit Behinderungen zu benachteiligen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), auch eine verfassungsrechtliche Grundlage für einen Anspruch auf Leistungen liegt:

„Diese Auslegung gebietet schließlich Art 3 Abs 3 Satz 2 GG, in dessen Rahmen Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll, so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben zu führen. Die Norm beinhaltet einen Förderauftrag und vermittelt einen Anspruch auf die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe am Alltagsleben, wozu auch Urlaub und Freizeit rechnen […].” (Rn. 16)

Das ist ein überzeugendes Verständnis des Benachteiligungsverbots aus Art. 3 GG. Denn um Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen entgegenzuwirken, reicht ein reines Abwehrrecht nicht aus. Das Benachteiligungsverbot erfordert auch positive Maßnahmen (wie z.B. Leistungen der Eingliederungshilfe), um wirksam zu sein.

Ebenso überzeugend nimmt das BSG Bezug auf die UN-BRK:

„Entsprechend enthält auch Art 30 Abs 5 UN-BRK […] die Zielformulierung, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilnahme an Erholungs-, Freizeit- und Sportaktivitäten zu ermöglichen, und benennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Tourismusaktivitäten; auch dies ist bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte sowie bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe zu beachten […].” (Rn. 16) [dazu ausführlich: Rosenow, ASR 3/2015]

Menschen mit Behinderungen, die unzufrieden mit den Leistungen der Eingliederungshilfe sind, die ihnen in der Praxis zugebilligt werden, sollten sich durch diese Entscheidung ermutigt fühlen, den Rechtsweg zu beschreiten und nicht aufzugeben, bevor sie beim Bundessozialgericht angekommen sind.

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