Zwangsbehandlung auch außerhalb einer Unterbringung nach § 1906 BGB

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 26.07.2016 mit einem am 25.08.2016 veröffentlichten Beschluss entschieden, dass die derzeitigen gesetzlichen Voraussetzungen für medizinische Behandlungen gegen den Willen des Betroffenen zu eng sind (BVerfG, 26.07.2016, 1 BvL 8/15). Die Entscheidung erging im Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG: Der BGH hatte dem BVerfG mit Beschluss vom 01.07.3015 (BGH, 01.07.2015, XII ZB 89/15) die folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:

Es wird eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage eingeholt, ob § 1906 Abs. 3 BGB in der Fassung des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 2013 (BGBl. I S. 266) mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, soweit er für die Einwilligung des Betreuers in eine stationär durchzuführende ärztliche Zwangsmaßnahme auch bei Betroffenen, die sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, voraussetzt, dass die Behandlung im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgt.

Dass BVerfG hat die Auffassung des BGH jetzt bestätigt und entschieden, dass es mit der Schutzpflicht des Staates für das Leben und die Gesundheit nicht vereinbar ist, dass für Betreute, denen schwerwiegende geusndheitlihe Beeinträchtigungen drohen und die die Notwendigkeit der erforderlichen ärztlichen Maßnahmen nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, eine ärztliche Behandlung gegen ihren natürlichen Willen unter keinen Umständen möglich ist, sofern sie zwar stationär behandelt werden, aber nicht geschlossen untergebracht werden können, weil sie sich der Behandlung räumlich nicht entziehen wollen oder körperlich nicht dazu in der Lage sind.

Das BVerfG hat des Gesetzgeber verpflichtet, "unverzüglich eine Regelung für diese Fallgruppe zu treffen".

Zur Vorgeschichte: Bis zum Jahr 2011 hielt die Rechtsprechung Zwangsbehandlung in unterschiedlichen Zusammenhängen für zulässig. Mit dem Zwangsbehandlungsbeschluss vom 23.03.2011 (BVerfG, 23.03.2011, 2 BvR 882/09) hat das BVerfG klargestellt, dass eine Zwangsbehandlung nur unter strengen Voraussetzungen als ultima ratio in Betracht kommt und dass effektiver Rechtsschutz zu gewährleisten ist. Daraufhin entschied der BGH, dass § 1906 BGB in der damals gültigen Fassung vor dem Hintergrund dieser Entscheidung nicht mehr ausreichende Rechtsgrundlage für Maßnahmen der Zwangsbehandlung angesehen werden könne (BGH, 20.06.2012, XII ZB 130/12). Dies führte zum Erlass des Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18.02.2013, durch das § 1906 BGB reformiert wurde. Die Reform erfasste aber nicht Fälle wie den, über den das BVerfG nun zu entscheiden hatte. In diesen Fällen war Zwangsbehandlung bis zum Beschluss vom 26.07.2016 immer und ohne Ausnahme unzulässig.

Bemerkenswert ist, dass das BVerfG sich in der Entscheidung ausführlich mit Art. 12 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auseinandersetzt und zum Ergebnis kommt, dass die UN-BRK Zwangsbehandlung nicht grundsätzlich verbietet (was von unterschiedlichen Seiten vertreten wird). das BVerfG hat auch geprüft, ob und inwieweit die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Zwangsbehandlung grundsätzlich verbietet oder die Möglichkeit verlangt. Insgesamt kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die Grundrechte in ihrer jeweiligen Kodifizierung in der deutschen Verfassung, der EMRK und der UN-BRK kohärent sind. Mit diesen Ausführungen wird sich insbesondere die Debatte um Art. 12 UN-BRK künftig auseinandersetzen müssen.

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